Ilse und ich – Zwischen Rastlosigkeit und Nähe


Ilse tauchte auf, als hätte sie nie gefehlt, und das war wirklich ein sehr angenehmes Gefühl. Ohne Vorankündigung, ohne große Worte. Sie war einfach da, und das war wirklich sehr schön. Wie ein Zug, der nur kurz am Bahnhof hält, bevor er weiterfährt. Ihr Fahrrad lehnte an der Wand des kleinen Cafés, an dem wir uns immer trafen, und sie saß schon am Fenster, als ich eintraf. Ihr Blick wirkte ruhig, aber ihre Hände ruhten nicht lange still. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, trommelte mit den Fingern auf die Tischkante und bewegte ihren Löffel im Kaffee.

Ihre Rastlosigkeit war nicht nur etwas Äußeres – sie lag in ihr, tief verankert. Ilse konnte einfach nicht stillstehen. Nicht lange jedenfalls.Ich setzte mich ihr gegenüber und wir fingen an, uns wie immer zu unterhalten. Frühstück, Kaffee, Geschichten von unterwegs. Sie erzählte von engen Bergpässen, die sie mit dem Fahrrad erklommen hatte, von windigen Küstenstraßen, von Nächten in kleinen Pensionen oder einfach unter freiem Himmel. Sie sprach von all dem mit einer Leichtigkeit, die mich gleichzeitig faszinierte und ermüdete.

Während sie sprach, fühlte ich mich schwerer als sonst. Es war nicht Neid, nicht einmal Sehnsucht – es war eher dieses leise Bewusstsein, dass ich nie so sein würde wie sie, dass meine Welt kleiner, ruhiger und weniger von Geschwindigkeit bestimmt war. Doch Ilse akzeptierte diese Unterschiede nicht wirklich. Sie sah sie, ja. Aber sie glaubte nicht daran, dass sie unveränderlich waren.

Sie wollte mich bewegen, im wahrsten Sinne des Wortes, und sie glaubte fest daran, dass Bewegung das Richtige für mich war. Sie meinte, ich müsse nur den ersten Schritt tun, um dann in einen Rhythmus zu finden, der mich weitertragen würde. Vielleicht war das ihre Art, die Welt zu verstehen – als etwas, das in Bewegung bleiben musste, weil Stillstand bedeutete, sich aufzugeben. Und so versuchte sie, mich zu überreden. Nicht mit Worten, sondern mit Gesten. Sie schlug vor, dass wir einen Spaziergang machen, dann eine kleine Runde laufen, nicht viel, betonte sie, nur ein bisschen, nur so, dass es gut für mich wäre.

Ich wusste, dass es nicht so einfach war, aber Ilse glaubte so fest daran, dass ich mich von ihrer Überzeugung für einen Moment mitreißen ließ. Also liefen wir. Oder besser gesagt: Sie lief, und ich versuchte, mitzuhalten. Anfangs ging es noch. Die Luft war kühl, der Boden federte leicht unter den Schritten. Ilse bewegte sich mit der Mühelosigkeit eines Menschen, der nicht darüber nachdachte, ob er kann oder nicht. Sie war einfach in Bewegung.

Nach wenigen Minuten wurde es für mich schwerer. Meine Beine fühlten sich müde an, mein Atem ging schneller. Ich sagte nichts, versuchte nur, Schritt zu halten. Ilse sprach weiter – über einen kleinen Ort in Portugal, die Menschen, die sie dort treffen würde, die Straßen, die nach Orangenblüten duften würden.

Ich hörte zu, so gut ich konnte, aber irgendwann war mein eigener Atem lauter als ihre Stimme. Ich verlangsamte mein Tempo, aber Ilse merkte es nicht sofort. Sie lief weiter, noch ein paar Meter, bevor sie sich endlich umdrehte und mich ansah. In ihrem Blick lag keine Ungeduld, kein Vorwurf, sondern nur ein kurzes, prüfendes Zögern, als würde sie gerade erst begreifen, dass meine Grenzen anders waren als ihre.

Am nächsten Tag versuchte sie es noch einmal, und diesmal war es ein längerer Spaziergang durch die Stadt, weniger anstrengend, sanfter. Ich folgte ihr, ließ mich mitziehen, genoss die Bewegung, aber nicht auf ihre Weise. Für Ilse war Bewegung Freiheit, für mich war sie oft ein Kampf.

Wir saßen später in einem Park, während sie in den Himmel blickte, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Sie sprach nicht viel, schien nachzudenken, vielleicht über die Gründe, warum es mir so schwerfiel. Vielleicht über ihre nächste Reise? Nein, dafür ist sie mir inzwischen zu weit geworden, denn sie würde weiterfahren, das wusste ich. Ilse war nicht jemand, der blieb.

Am letzten Abend saßen wir wieder am Fluss, einem Ort, der sich wie eine Konstante anfühlte – etwas, das blieb, selbst wenn Ilse es nicht tat. Das Wasser strömte in gleichmäßiger Bewegung, sanft, ruhig, aber unaufhaltsam, und erinnerte mich an sie.

Sie blieb an diesem Abend länger als sonst, fast so, als wollte sie noch etwas sagen. Vielleicht wollte sie mich fragen, ob sie mitkommen solle. Vielleicht fragte sie sich, ob sie mich doch noch überzeugen könnte.

Am nächsten Morgen stand ich früh auf. Ich wusste, dass sie bald losfahren würde, und ich wollte sie noch einmal sehen, bevor sie verschwand. Ich fand sie vor dem Café, wo alles begonnen hatte.Ihr Fahrrad stand neben ihr, ihre Hände ruhten auf dem Lenker. Als sie mich sah, lächelte sie.

Sie stieg auf, trat in die Pedale und wurde schneller.

Ich sah ihr nach, bis sie in der Ferne verschwand, und fragte mich, ob sie irgendwann ankommen würde oder ob sie das gar nicht wollte. Glücklich sein, das ist ihr Ziel – und das ist gut so!